Wirkliche Anerkennung stellt die Mitarbeitenden in den Mittelpunkt

Interview mit Dr. rer. soc. Dana Sindermann

Dana Sindermann leitet den Bereich Wirtschafts- und Sozialethik an der Paulus Akademie in Zürich. Sie interessiert sich besonders für die grossen Fragen, z.B.: «Was macht ein gelungenes Leben aus?», «Was brauchen wir, um ein erfülltes Leben zu führen?» und «Was ist der Sinn von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft?» Deshalb hat Dana Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin studiert und anschliessend am Institut für Wirtschaftsethik der Universität St.Gallen an der Schnittstelle von Philosophie und Betriebswirtschaft promoviert. Ihre Forschung zum Thema Anerkennung im Beruf wurde in dem Buch «Sinn und Anerkennung von Arbeit. Ein philosophisches Modell für das Personalwesen» im Campus Verlag veröffentlicht.

ValueQuest ist Expertin für Mitarbeitendenbefragungen. Unser Anliegen ist es, unsere Expertise rund um Mitarbeitendenbefragungen voranzutreiben und am Puls der Zeit neue Methodiken und fachliche Kompetenzen aufzubauen. Weil Mitarbeitende Anerkennung und Wertschätzung wichtig finden, führte Inspirationsexpertin Kathrin Neumüller ein spannendes Interview mit Dana über dieses Thema.

Um vorab eine Hoffnung zu zerschlagen: Anerkennung kann laut Dana Sindermann nicht dazu benutzt werden, um die Motivation der Mitarbeitenden gezielt zu steigern. Anerkennung ist ihrer Meinung nach etwas sehr Menschliches, das nicht als Instrument zur Steuerung und Kontrolle der Mitarbeitenden eingesetzt werden sollte. Wenn wir versuchen, Anerkennung für solche Zwecke einzusetzen, verliert sie ohnehin automatisch ihre positive Wirkung. Wirkliche Anerkennung stellt Menschen mit ihren Bedürfnissen, Eigenschaften, Interessen und Wünschen in den Mittelpunkt.

Kathrin Neumüller: Woher kommt Deine persönliche Inspiration, Dich mit Anerkennung im Arbeitskontext auseinanderzusetzen?

Dana Sindermann: Das liegt ganz einfach daran, dass ich mich für Menschen interessiere und speziell für die Frage, was wir als Menschen brauchen, um ein erfülltes und gelingendes Leben zu führen. Um dieser grossen Frage auf den Grund zu gehen, habe ich in Berlin Philosophie studiert. Vor allem, weil mir auffiel, dass wir in unserer Gesellschaft in grossem materiellen Überfluss leben, und doch viele Menschen nicht zufrieden wirken.

Im Gegenteil: Wir haben eine hohe Rate an Burn-Out, Depressionen, an Übergewicht und an psychosomatischen Erkrankungen wie Rücken- und Bauchschmerzen. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass wir nicht mehr sehen und nicht mehr spüren, was wir eigentlich brauchen, was uns guttut und erfüllt, weil unser Fokus zu stark auf materiellen Dingen liegt. Also ein möglichst hohes Gehalt, eine schickschicke Wohnung und eine Menge Dinge, von denen wir uns fragen können: was geben sie mir, machen sie mich wirklich zufrieden? Dieser Fokus auf die materiellen Dinge trübt unser Gefühl dafür, was uns wirklich wichtig ist. Und ich bin überzeugt, uns Menschen als soziale Wesen ist es sehr wichtig, gute Beziehungen zu führen und als Mensch gesehen zu werden. Das heisst, gesehen zu werden in unseren persönlichen Eigenschaften, in unseren Fähigkeiten und Leistungen und in unseren Wünschen und Bedürfnissen. Dies gilt auch im Beruf. In meiner Forschungsarbeit versuche ich diesen Punkt hervorzuheben: Materielle Anerkennung ist oftmals ein unbefriedigender Scheinersatz für zwischenmenschliche Anerkennung. Letztere ist uns enorm wichtig, gerade wenn die materiellen Grundbedürfnisse befriedigt sind.

Kathrin Neumüller: Was bedeutet Anerkennung im Arbeitskontext?

Dana Sindermann: Anerkennung verstehen wir im Alltag häufig als Lob, als ein «Das hast Du gut gemacht», das von der Chefin kommt, oder dem Beifall, wenn man besonders erfolgreich war. Der Begriff der Anerkennung geht aber viel weiter: Anerkennung bedeutet, dass wir dem Gegenüber Aufmerksamkeit schenken, es wahrnehmen und seine Persönlichkeit, Talente und Fähigkeiten erkennen. Im Berufsleben bezieht sich Anerkennung vor allem auf Leistungen und Fähigkeiten. Doch auch die Beachtung persönlicher Eigenschaften gehört dazu. In einem Unternehmen gibt es die unterschiedlichsten Persönlichkeiten. Die einen sind vielleicht lustig und unterhaltsam, andere eher ein Ruhepol. Es ist wichtig, dass im Beruf nicht nur unsere Fähigkeiten, Leistungen und Talente gesehen werden, sondern auch unsere Person. Am Arbeitsplatz kommt dann noch etwas dazu: Es geht darum, zusammen an etwas zu arbeiten, das für beide Seiten bedeutungsvoll ist. Anerkennung im Beruf bedeutet also, gemeinsam an etwas zu arbeiten und unsere individuellen Fähigkeiten und Talente in Richtung eines gemeinsamen Ziels einzusetzen. Und in dieser Zusammenarbeit entwickeln wir uns idealerweise weiter. Wir wachsen durch Herausforderungen im Beruf. Und unsere Entwicklung nutzt idealerweise dem Team und auch dem Unternehmen. Anerkennung geht also über Lob und Beifall weit hinaus, denn sie umfasst die Sinnhaftigkeit des eigenen beruflichen Tuns. In Anerkennung schwingt immer die Frage mit, ob wir etwas Sinnhaftes tun, nicht nur für unser Unternehmen, sondern auch für die Gesellschaft. Wenn sie wissen, dass sie für ein grösseres Ganzes arbeiten, was möglicherweise sogar auch noch über Generationen hinaus wirkt, erleben Menschen die volle Art der Anerkennung.

Unternehmen können eine Kultur der Anerkennung fördern – Der Anfang liegt bei den Mitarbeitenden selbst

Kathrin Neumüller: Können wir lernen, andere Menschen anzuerkennen?

Dana Sindermann: Ja, Anerkennung ist grundsätzlich erlernbar, aber sie erfordert wirkliches Engagement von uns. Um gute Anerkennungsbeziehungen zu anderen aufzubauen, ist es zunächst hilfreich, eine positive Beziehung zu sich selbst zu haben. Wenn ich mich selbst achte, wenn ich weiss, was ich kann und brauche, und meine Grenzen akzeptiere, kann ich gute Beziehungen mit anderen führen.

Diese respektvolle und wertschätzende Einstellung sich selbst gegenüber ist die Grundlage für Anerkennung, und das kann jeder üben. Zum Beispiel, indem man sich täglich einige Minuten Zeit nimmt, um sich selbst zu spüren und sich über diese Gefühle und Empfindungen bewusst zu werden. Der Anfang liegt also bei uns selbst. Und hier kann ein Unternehmen durchaus unterstützend wirken, indem es eine Kultur und Einstellung der Wertschätzung fördert. Beispielsweise, indem die Mitarbeitenden gefragt werden, welches Feedback sie wünschen. Möchten sie eine detaillierte Bewertung? Möchten sie Unterstützung durch Schulungen oder mit einem bestimmten Teammitglied zusammenarbeiten? Schon das offene Gespräch über diese Bedürfnisse ist eine Form der Anerkennung. Oftmals sind wir uns selbst nicht bewusst, was uns fehlt oder was wir brauchen, und wir trauen uns vielleicht auch nicht, es auszusprechen. Hier kann das Unternehmen helfen, gemeinsam über diese Bedürfnisse zu sprechen.

Kathrin Neumüller: Vielen Dank, Dana. Ich habe den Eindruck, dass wir uns hier in einer idealen Welt befinden, in der wir die Zeit finden, jeden Tag zu reflektieren. In der Realität ist es aber so, dass viele Mitarbeitende familiäre Verpflichtungen haben und gegebenenfalls nicht die Zeit zur Reflexion oder gar die Fähigkeiten zur Selbstreflektion haben. Wie gehen wir mit dieser Herausforderung um?

Dana Sindermann: Meiner Meinung nach zeigt dieses Problem, dass wir teilweise unseren Kompass verlieren und vergessen, was uns wirklich wichtig ist. Inmitten all des Stresses und der vielen Aufgaben im Berufsleben kann das leicht passieren. Das Konzept der Anerkennung ermutigt uns dazu, innezuhalten und darüber nachzudenken, was uns im Leben wirklich wichtig ist. Sonst eilen wir nur durch unsere Arbeit und unser Leben, ohne am Ende zu wissen, wofür wir gelebt haben. Unsere Arbeit ist mehr als nur Geld-Verdienen und Wirtschaft ist mehr als nur Gewinnmaximierung. Arbeit und Wirtschaft bedeutet auch, die Welt gemeinsam zu gestalten und Krisen zu bewältigen. Den jüngeren Generationen, GenY und -Z, scheint dies bewusster zu werden. Sie stellen sich viel stärker als vorige Generationen die Frage, für was ihre kostbare Lebenszeit und ihre Arbeitszeit einsetzen wollen.

Anerkennung in der Arbeitswelt ist bedeutender denn je

Kathrin Neumüller: Warum ist «Anerkennung» in der Arbeitswelt genau jetzt so gefragt?

Dana Sindermann: Nach vielen Jahren des Wohlstands und des Überflusses sind wir an einen Punkt gelangt, an dem wir erkennen, dass dieser materielle Überfluss uns nicht glücklich macht. Im Gegenteil: er verursacht viel Leid und wirft einige Fragen auf. Wir sind besorgt darüber, wie unser Lebensstil die Natur verändert, und wir beginnen, über die Art und Weise, wie wir unser Leben gestalten, nachzudenken.

Die Menschen spüren, dass es so nicht weitergehen kann, und sie sehnen sich nach mehr Lebensqualität und Bedeutung in ihrem Leben. Wir erleben derzeit einen Wertewandel – weg von rein materiellen Dingen hin zu zwischenmenschlichen Beziehungen und einem sinnvolleren Leben. Und meine Forschung zeigt: Menschen empfinden ihren Beruf als sinnvoll, wenn er nicht nur die Unternehmensziele erreicht, sondern auch gesellschaftlichen Nutzen hat. Und hier sind wir wieder beim Thema Anerkennung.

Anerkennung wird in der Arbeitswelt immer wichtiger, weil wir erkennen, dass materielle Dinge allein nicht ausreichen. Wir sehnen uns nach zwischenmenschlichen Erfahrungen und Sinnhaftigkeit in unserer Arbeit. Das Konzept der Anerkennung greift genau diese zwischenmenschlichen Erfahrungen und die Sinnhaftigkeit unserer Arbeit auf.

Kathrin Neumüller: Welche Rolle spielt Anerkennung heute im Employer Branding, beim Recruiting und bei der Mitarbeiterbindung?

Dana Sindermann: Anerkennung spielt eine entscheidende Rolle in der Wahrnehmung eines Unternehmens als attraktiver Arbeitgeber und bei der Bindung von Mitarbeitenden. Menschen suchen nicht nur nach einem Job, sondern nach einer sinnstiftenden Arbeit. Sie wollen in einem Unternehmen arbeiten, das ihnen diesen Sinn bietet. Darüber hinaus streben sie danach, sich persönlich weiterzuentwickeln.

Ein ganzheitlicher Sinn entsteht, wenn sie nicht nur ihre Fähigkeiten im Team einsetzen können, sondern auch das übergeordnete Ziel des Unternehmens mit ihren eigenen Zielen in Einklang steht. Menschen möchten sehen und wissen, dass ihre Arbeit einen Zweck erfüllt, der «grösser» ist als das Unternehmen selbst, beispielsweise unsere Gemeinschaft, die Weltgesellschaft und die Natur. Ein Unternehmen, das soziale, ökologische und wirtschaftliche Verantwortung übernimmt, kann ein besonders anerkennendes Umfeld schaffen. Denn wenn es das Konzept der Triple-Bottom-Line verfolgt, trumpfen nicht die wirtschaftlichen Ziele über die anderen, sondern sie stehen gleichwertig neben den ökologischen und sozialen Zielen stehen.

Kathrin Neumüller: Gibt es auch Nachteile beim Konzept der Anerkennung? Wo liegen die Grenzen aus einer praktischen Sicht?

Dana Sindermann: Ein Vorteil und Nachteil zugleich ist, dass Anerkennung nicht als reines Führungsinstrument zur Mitarbeitermotivation verwendet werden kann. Das ist ein Vorteil, weil es uns daran erinnert, dass Menschen in ihrem Beruf Würde verdienen. Es betont, dass der Mensch im Mittelpunkt stehen sollte und die Wirtschaft dem Menschen dienen sollte, nicht umgekehrt. Anerkennung zeigt uns somit auch die Grenzen des Strebens nach Profit auf. Sie verlangt, dass die Mitarbeitenden anständig entlohnt werden und dass deren Interessen und Bedürfnisse angemessen berücksichtigt werden.

Ein möglicher Nachteil aus unternehmerischer Sicht ist, dass Anerkennung sich eben nicht instrumentalisieren lässt, weil, wenn man sie so einsetzt, ihre positive Wirkung zerfällt. Ich persönlich denke jedoch, dass es Werte und Prinzipien gibt, die zu wertvoll und würdevoll sind, um sie als Werkzeug zur Profitsteigerung zu verwenden.

Insofern ist es auch ein Vorteil, dass Anerkennung sich nicht instrumentalisieren lässt. Denn das erinnert uns daran, dass unsere berufliche Tätigkeit, sowie Unternehmen und Wirtschaft Teil eines größeren Ganzen sind, und wir als Menschen zusammenarbeiten sollten, um etwas Größeres und wirklich Wichtiges zu erreichen.

Kathrin Neumüller: Was ist der Zusammenhang zwischen Anerkennung und Mitarbeitermotivation und Mitarbeiterinspiration?

Dana Sindermann: Ich sehe einen starken Zusammenhang zwischen Anerkennung und Mitarbeitermotivation. Wenn wir eine Chefin oder Kollegen haben, die uns dazu einladen, uns zu entfalten, damit wir uns weiterentwickeln können und unsere Ideen einbringen können, dann fühlen wir uns lebendig und angeregt. Wir suchen diejenigen, die uns aufrichtiges und im besten Fall positives Feedback geben. Wenn Unternehmen eine Arbeitsumgebung schaffen, in der Mitarbeitende zusammenarbeiten, sich einbringen können und sich aufrichtig füreinander interessieren, steigert das ihre Motivation und Inspirationsfähigkeit. Ein anerkennendes Arbeitsumfeld motiviert und inspiriert meiner Meinung nach die Mitarbeitenden.

Kathrin Neumüller: Wo unterscheidet sich Anerkennung von Wertschätzung, Würdigung und Respekt?

Dana Sindermann: Wertschätzung sieht den Menschen als Ganzes und nicht nur einzelne Aspekte. Und sie ist die Voraussetzung dafür, um ein Verhältnis der Anerkennung aufbauen zu können. Wenn wir jemanden wertschätzen, begegnen wir ihm oder ihr wohlwollend, und das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, um ein Verhältnis der Anerkennung aufzubauen. Anerkennung betrifft nun ganz bestimmte Eigenschaften und Aspekte des Menschen, die wir sehen und auf die wir positiv eingehen. Wir können beispielsweise sagen: «ich schätze Dich so wie du bist» oder «ich schätze deine Fähigkeit, einen Projektplan zu erstellen, der die Fähigkeiten der Mitarbeitenden angemessen berücksichtigt und an den sich alle Beteiligten deshalb gerne halten.» Würdigung dahingegen ist eher hierarchisch zu verstehen und impliziert einen Blickwinkel von oben herab.

Auch Respekt ist wichtig für Anerkennung und geht der Anerkennung voraus. Respekt bedeutet, dass wir die körperliche und emotionale Verletzlichkeit sowie die freie Willensentscheidung unseres Gegenübers achten. Respekt ist also eine Haltung zum Gegenüber. Anerkennung ist hingegen eine interaktive Beziehung, bei der wir zusammenarbeiten und miteinander in Kontakt stehen.

Kathrin Neumüller: Wie wirkt sich ein anerkennendes Arbeitsumfeld auf Mitarbeitende aus?

Dana Sindermann: In einem anerkennenden Umfeld können Mitarbeitende sich gut entfalten und ihre Fähigkeiten und Talente entwickeln. Sie können kreativ sein und ihre Ideen einbringen, weil sie wissen, dass andere ihnen positiv gegenüberstehen und sie wertschätzen. In so einem Umfeld trauen sich Mitarbeitende viel stärker, innovative Ideen vorzubringen. Das bedeutet, dass ein anerkennendes Arbeitsumfeld auch förderlich für Innovation und Entwicklung ist, was letztendlich durchaus zu mehr unternehmerischem Erfolg führt.

Kathrin Neumüller: Ganz herzlichen Dank für dieses sehr spannende und inspirierende Gespräch.

Das Interview führte Dr. oec. HSG Kathrin Neumüller, Inspirationsexpertin und Projektleiterin bei ValueQuest. Kathrin Neumüller gibt international Impulsvorträge und Workshops zum Thema Führung, Mitarbeiterinspiration und -empowerment.

Dana Sindermann, Bereich Wirtschafts- und Sozialethik
Kathrin Neumüller

Kathrin Neumüller

Dr. oec. HSG in Betriebswirtschaftslehre
Masterstudium in Sozialwissenschaften

Projektleitung, Consulting & Innovationsexpertin

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