Gianni Valeri war CEO der Manpower Group Schweiz, Managing Director von Coople Schweiz und Director Professional Staffing der Adecco Group Schweiz und Italien. Nun ist er Geschäftsführer von Leadership & Culture und widmet sich insbesondere den Themen Leadership, Intercultural Management und Organizational Culture.
Kathrin Neumüller hat ein spannendes Experteninterview mit ihm geführt, bei dem die Weiterentwicklung des eigenen Führungsstils und der Führungskultur durch Führungsfeedback im Vordergrund standen.
Welchen Einfluss haben Führungskultur und Unternehmenskultur auf die Leistung der Mitarbeitenden?
Kathrin: Woher kommt Deine persönliche Inspiration, Dich mit Leadership, Führungskultur und Talentstrategie auseinanderzusetzen und Unternehmen darin zu unterstützen?
Gianni: Es gibt zwei Quellen für meine Leidenschaft zu diesem Thema. Zum einen habe ich 25 Jahre in der Personaldienstleistung gearbeitet und durfte dort unzählige Unternehmen kennenlernen und begleiten. Ich durfte Tausende von Fachkräften interviewen und vermitteln und habe festgestellt, dass dieselbe Person, dieselbe Fachkraft, derselbe Mensch oder Mitarbeitende, den ich vermittelt habe, bei einem Kunden unglaubliche Begeisterung auslösen konnte, dieselbe Person aber bei einem anderen Kunden zu scharfer Kritik und Reklamationen führte.
Am Anfang war das eine grosse Überraschung. Ich fragte mich: Wie kann das sein? Das ist doch derselbe Mensch, der dieselbe Arbeit leistet. Wieso gibt es solche grossen Unterschiede? Ich habe damals gelernt, dass verschiedene Elemente zusammenspielen müssen, damit die Zusammenarbeit zwischen dem Mitarbeitenden und der Führungskraft auch wirklich gut zusammenpasst. Diese Elemente sind beispielsweise die Führung, die Führungskultur und die Unternehmenskultur.
Die zweite grosse Inspirationsquelle war mein Executive MBA an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) 2013 bis 2015. Während dieses Executive MBAs war Leadership ein grosses Thema. Ich schrieb damals meine Masterarbeit über den Einfluss von Führung auf die Unternehmensperformance und konnte so meine Leidenschaft weiterentwickeln. Die kritische Gegenüberstellung von Praxis und Theorie hat mich damals fasziniert. An der ZHAW doziere ich seit 2018 Leadership, weil ich Theorie und Praxis zusammenführen und auch die Resultate davon weitergeben kann. Es sind meine Berufserfahrung und die theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Leadership, die mich dazu bewegten, dieses Thema zu meinem Lebensinhalt zu machen. Gerade die Unterstützung in diesen Bereichen ist am stärksten und wertvollsten, da ich Unternehmen respektive Führungskräften Werkzeuge und Modelle an die Hand geben kann, um ihre eigene Führung weiterzuentwickeln.
Talente können sich nur in der richtigen Organisations- und Führungskultur entfalten
Gianni: Du hast auch das Thema Talent-Strategie angesprochen. Ich stehe der Talent-Diskussion skeptisch gegenüber, da dieser Begriff impliziert, dass die Entwicklung als Talent ausschliesslich beim Arbeitnehmenden selbst läge. Ich bin jedoch der Meinung, dass dies fundamental einseitig und falsch ist, da Talent sein oder werden mit vielen externen Faktoren zu tun hat und diese zusammenspielen müssen. Die Führungskultur und Organisationskultur haben einen starken Einfluss darauf, wie Menschen ihre Talente einsetzen können.
Kathrin: Ich halte deine Antwort insofern für sehr bestärkend, dass diese nicht unbedingt die ganze Verantwortung für beruflichen Erfolg dem Individuum zuschreibt, sondern auch den äusseren Umständen. Man ist des eigenen Glückes Schmied, heisst es. Dennoch gibt es Faktoren, die man nicht beeinflussen kann. Ich finde deine Aussage spannend, dass dieselben Menschen auch polarisieren können. Dass sie in einem Umfeld zum Fliegen kommen und sich in einem anderen Umfeld eingesperrt fühlen und dass organisationale Faktoren für die einen Mitarbeitenden fördernd und für die anderen Mitarbeitenden hemmend wirken können.
Gianni: Dem stimme ich zu. Es ist weder nur die Verantwortung der Führungskraft noch ausschliesslich des Arbeitnehmenden. Darum behaupte ich hier plakativ: Jede(r) ist ein Talent, sofern er oder sie im richtigen Umfeld seine/ihre Fähigkeiten zum Tragen bringen kann.
Führungserfolg hängt von Führungszielen ab
Kathrin: Deine These ist: «Führung ist lernbar». Diese Aussage würde wahrscheinlich viele Menschen überraschen, weil sie davon ausgehen, dass Führung angeboren ist. Wie kommst Du zu dieser Aussage?
Gianni: Ich müsste natürlich die Gegenfrage stellen – was ist gute Führung? Hat gute Führung mit dem Unternehmenserfolg und der Performance zu tun? Oder hat gute Führung mit Mitarbeitendenzufriedenheit zu tun? Führungserfolg hängt von der Perspektive ab.
Die Auffassung, dass Führungskompetenz angeboren sei, kommt aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die sogenannte Great Man Theory of Leadership kommt aus dem Militärischen. Damals wurde Führung vor allem im militärischen Umfeld erforscht. Laut dieser Theorie ist man als Führungskraft geboren oder eben nicht. Mittlerweile hat die Leadership-Forschung weiter an dieser Thematik gearbeitet, die Big-Five- Persönlichkeitsmerkmale aufgenommen und untersucht, welche Charaktereigenschaften Führungskräfte mehrheitlich haben. Im Zuge dessen haben Wissenschaftler auch herauszufinden versucht, welche Charaktereigenschaften vererblich sind.
Die Ansprüche der Arbeitnehmenden entwickeln sich mit gesellschaftlichen Veränderungen mit
Die Forschung sagt mittlerweile, dass etwa 50% der für Führungskräfte wichtigen Eigenschaften vererbt werden. Gleichzeitig entwickeln sich Führungsansprüche und Führungsstile auch mit der Gesellschaft mit. Bis 1950 war Führung stark autoritär. Heute ist der Anspruch an Führung, dass sie partizipativer, kooperativer und integrativer ist. Das hat sich mit der Gesellschaft verändert und entwickelt. Dementsprechend werden heute andere Personen gute Führungskräfte, die es wahrscheinlich vor 50-70 Jahren nicht gewesen wären.
Gute Führung ist lernbar
Gianni: Es gibt viele Werkzeuge, um an seinem Führungsstil zu arbeiten. Ich bin der Überzeugung, dass viele Aspekte guter Führung erlernt werden können, beispielsweise über Schulungen, über Begleitung und natürlich über die eigene Erfahrung. Wenn jemandem die Merkmale einer guten Führungskraft angeboren sind – nennen wir sie mal Talente – dann ist es einfacher, eine bessere Führungskraft zu werden. Wenn man vielleicht weniger angeborene Merkmale hat, kann man diese grösstenteils lernen, sofern der Wille dazu besteht. Ein Roger Federer ist mit einem grossen Talent gesegnet, musste aber auch trainieren.
Kathrin: Du vergleichst eine gute Führungskraft mit einem Leistungssportler oder mit einem Profimusiker. In diesen Bereichen gibt es die 10.000 Stunden Regel nach dem US-Psychologen Anders Ericsson –in anderen Worten: kein Meister ist vom Himmel gefallen. Nur weil Leadership als Softskill gilt, impliziert das nicht, dass man sie nicht üben und weiterentwickeln muss. Zum anderen sagst Du, dass sich die Definition von gutem Leadership auch an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zielen orientiert, sprich in einem wirtschaftlichen System, das auf Profitmaximierung abzielt, wird ein anderer Führungsstil bevorzugt als in sozialorientierten Systemen oder Firmen, wie beispielsweise den sogenannten gGmbHs (gemeinnützige GmbHs).
Sind Frauen die besseren Führungskräfte?
Kathrin: Tomas Chamorro-Premuzic, der Chief Innovation Officer bei Manpower Group und weltweit bekannter Professor für Arbeitspsychologie publizierte kürzlich ein Buch mit dem Titel «Warum so viele inkompetente Männer in Führungspositionen sind (und was man dagegen tun kann)». Darin zeigt Chamorro-Premuzic auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse auf, dass Männer statistisch gesehen schlechtere Führungskräfte als Frauen sind. Die meisten Unternehmen und Organisationen würden destruktive Persönlichkeitseigenschaften wie Narzissmus und ein überzogenes Selbstbewusstsein mit Führungspotential verwechseln. Gianni, was macht für Dich den weiblichen Führungsstil aus?
Gianni: Grundsätzlich wird Führungsstärke oft mit starkem Auftreten gleichgestellt, oder provokativer gesagt, «verwechselt». Man sieht den Chef als starke Person. Wenn der Chef stark auftritt, dann haben wir den Eindruck, dass er ein guter Chef ist. Das ist aus meiner Sicht falsch. Wir bewegen wir uns hier in der Welt der tierischen Instinkte, wenn ich mir erlauben darf, dies so auszudrücken. Dies brachte meine Masterarbeit über den Einfluss von Führung auf Performance klar zutage. Damals konnte ich mit einem kleinen Sample zeigen, dass Frauen eine bessere Performance erbringen – sowohl finanziell als auch in puncto Mitarbeiterzufriedenheit. Frauen haben tendenziell einen höheren Neurotizismusanteil. Das heisst, sie setzen sich stark für die Sache ein. Sie führen [laut meiner Studie] partizipativ und belohnen ihre Mitarbeitenden, wertschätzen und anerkennen sie – besser als ihre männlichen Kollegen. Demensprechend kann ich sagen, dass Frauen tendenziell besser führen.
Es gibt einen grossen Unterschied zwischen Männern und Frauen: Wenn man eine Frau fragt, ob sie eine Rolle oder Challenge übernehmen will, dann wird die Frau antworten: «Ich muss schauen, ob ich das kann. Ich überlege es mir.» Der Mann wird sagen: «Ich kann es». Selbst, wenn es sich später als gegenteilig entpuppt. Ich bin der Meinung, dass Führung und HR-Entwicklungsprogramme berücksichtigen müssen, dass die Interaktion mit Frauen und mit Männern jeweils eine andere ist. Da dürfen Frauen ein bisschen mehr Selbstsicherheit an den Tag legen. Es ist jedoch auch die Aufgabe der Führungskraft, diese Fähigkeiten zu sehen und der Person auch diese Selbstsicherheit zu geben und sie in der Entwicklung zu unterstützen.
Was können Schweizer Unternehmen tun, um Frauen besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren?
Kathrin: Wo sollten Schweizer Unternehmen in puncto Integration von Frauen und Müttern in den Arbeitsmarkt noch aufholen? Welche Handlungsempfehlungen hast Du?
Gianni: Unternehmen haben noch viel Aufholbedarf. Einige machen es schon sehr gut. Aber viele Unternehmen müssen hier noch aufholen. Ich halte nicht sehr viel von Quoten. Ich bin ein starker Befürworter bewusster Führung der Mitarbeitenden, Fähigkeiten zu identifizieren und hervorzuheben und Personen bewusst zu fördern. Auch meine Frau arbeitet Teilzeit – insbesondere da haben die Firmen viel aufzuholen. Wenn man von Teilzeitarbeit spricht, dann sprechen viele Firmen von 80 oder 90%. Das ist keine Teilzeit. Das ist ein reduziertes Pensum. Bezüglich Teilzeitmodellen braucht es Modelle und Möglichkeiten, dass auch Frauen, die vielleicht 50% – 60% arbeiten wollen, Möglichkeiten haben, Führungspositionen oder Experten-Positionen zu übernehmen. Viele Unternehmen zeigen, dass das geht. Also da haben wir grosses Aufholpotenzial, vor allem, wenn wir von einem Fachkräftemangel sprechen. Jedoch braucht es dann die richtige Führung und kein Nasenrümpfen, wenn der Kleine mal krank ist und sie von zu Hause arbeiten muss. Es braucht viel Bewusstsein und gute Führung, damit eine gute Zusammenarbeit entsteht. Unternehmen haben hier noch Luft nach oben.
Kathrin: Vielen Dank, lieber Gianni, für dieses interessante Gespräch. Wir freuen uns, dass Du uns im zweiten Teils dieses Interviews – welchen wir in Kürze veröffentlichen werden – Deine praktischen Tipps für eine bessere Führung verraten wirst.